Die Angst zu versagen bleibt
Roxanas Geschichte
Roxanna ist fünf Jahre alt, als das Jugendamt sie aus ihrer Herkunftsfamilie rausnimmt. Dabei war die Familie beim Jugendamt bereits länger bekannt. Die Eltern sind stark drogenabhängig, Roxannas Vater sitzt im Gefängnis und die Mutter ist von ihrem neuen Freund mit Zwillingen schwanger. Der große Bruder wohnt bei den Großeltern. Warum das Jugendamt, trotz des Wissens über die Drogenabhängigkeit der Eltern und den Misshandlungen, Roxanna ganze fünf Jahre in der Familie lässt, ist fraglich. Mit fünf wird das Kind dann in eine Kurzzeitpflegefamilie gebracht, nachdem die Mutter mit den neugeborenen Zwillingen, Roxanna und ihrem Freund nach Holland abhaut und von Interpol gesucht werden muss, da sie die Neugeborenen aus dem Krankenhaus und auch Roxanna entführt.
Das ohnehin chaotische Leben von Roxanna wird allerdings auch in der Kurzzeitpflegefamilie nicht besser. Denn die Pflegemutter trennt sich in der Zeit von ihrem Mann und hat einen neuen Freund und drei leibliche Kinder. Es gibt viel Streit in dem Haus, vor allem zwischen den Erwachsenen, aber auch die Kinder bleiben nicht verschont. Roxanna wird ins Bad gesperrt, die Pflegemutter bleibt oft einfach weg… Nach 5 Monaten kommt Roxanna dann endlich in eine Langzeitpflege, die ihr die Stabilität und Sicherheit geben soll, die sie dringend braucht. In dieser Familie lebt Roxanna bis zu ihrer Volljährigkeit und bekommt all die Unterstützung, die sie braucht, um ihr Abitur machen zu können. Sie erzählt mit großer Dankbarkeit davon, wie ihre Pflegeeltern sich dafür einsetzten, dass sie auf eine Waldorfschule gehen kann, obwohl diese viel Geld kostet. Dank der Möglichkeit in der Waldorfschule bis zur neunten Klasse keine Noten zu bekommen, wird Roxanna der Druck genommen und sie hat Zeit, um mit der Situation und ihrem Leben klarzukommen, bevor sie sich durch die Abschlussjahre in der Schule kämpft und erfolgreich ihr Abitur macht.
Neue Herausforderungen als junge Erwachsene
Mit 18 Jahren wird allerdings Roxannas Auszugswunsch immer größer. Sie berichtet von Konflikten und dem Gefühl, eingeengt zu sein. Daraufhin schlägt das Jugendamt eine Wohngruppe vor. Diese rettet die Situation und Roxanna kann mit einem fließenden Übergang in ein betreutes Jugendwohnen ziehen und im Guten mit ihren Pflegeeltern auseinandergehen. Über die neue WG schwärmt Roxanna und meint, dass sie dort einen „ganz, ganz tollen Betreuer hat“ und sich dort gut aufgehoben fühlt. Es sei eine sehr familiäre Umgebung – mittags wird gekocht, es gibt gemeinsame Aktivitäten und die Regeln sind insgesamt viel lockerer als in ihrer Pflegefamilie. Ihr Alltag wird zu dieser Zeit vor allem durch ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) strukturiert, was sie in einer Förderschule und gerne macht.
Mit 20 Jahren wird sie allerdings ungewollt schwanger und der Platz in der WG steht auf der Kippe, die Wohnungssuche gestaltet sich schwierig, weil „keiner Jobcenter und Kind in der Wohnung haben will“. Auch der Kindsvater ist keine richtige Unterstützung. Die beiden trennen sich, nachdem er von der Schwangerschaft erfährt. Die Frage mit der Wohnung bleibt. Die Betreuenden in der WG engagieren sich dafür, dass es eine Lösung gibt, damit Roxanna in der WG bleiben kann. Allerdings geht zu der Zeit der Bezugsbetreuer selbst in Elternzeit und die Betreuerin fällt wegen Krankheit länger aus. Roxanna entscheidet sich schließlich aus (Wohnungs-)Not für ein Mutter-Kind-Heim und beantragt Familienhilfe.
Auf diese Zeit blickt sie nur ungern zurück. Sie erzählt, wie überfordert sie war und von großer Angst, weil sie als Careleaverin kein Sicherheitsnetz hatte, keine Familie, die sie unterstützen könnte. Über das Mutter-Kind-Heim berichtet sie, wie sie dort sehr strengen Regeln unterlag und sich wie eine Kriminelle behandelt fühlte. Die Freiheiten, die sie in der WG bekommen hatte, wurden im Mutter-Kind-Heim eingetauscht gegen Ausgangsregeln von 15 bis 18 Uhr und die Pflicht, dass die Kinder bereits mit 2 Monaten in die angebundene Krippe gegeben werden müssen. Die Betreuerinnen dort verstehen Roxanna, können an den Regeln jedoch nichts ändern, weil diese für alle gelten und die anderen Mütter dort oft unfreiwillig untergebracht sind. Als dann noch die Krätze ausbricht, entscheidet sich Roxanna, endgültig zu gehen.
Schließlich zieht sie zu der Mutter ihres damaligen besten Freundes, den sie noch aus der Schulzeit kennt. Diese kommt aus Kanada zurück, um Roxanna zu unterstützen. Gemeinsam leben sie in einer Wohnung. Für Roxanna die Rettung, auch wenn sie sich mit ihrer Tochter ein 8qm Zimmer teilt. Eine Konstante zu der Zeit ist die zuständige Jugendamtsmitarbeiterin, die zuerst Roxannas Vormundin war und dann zur Jugendamtszuständigen wechselte. Und obwohl Roxanna damals mit dem Umzug ins Mutter-Kind-Heim den Landkreis und damit das Jugendamt wechselt, kämpft die Mitarbeiterin darum den Fall weiter betreuen zu können und begleitet Roxanna schließlich von ihrem zwölften Lebensjahr bis zum Ende der Jugend- und Familienhilfezeit. Etwas, das nur selten passiert, da auch die Jugendämter nicht von der hohen Fluktuationsrate verschont bleiben.
Rückblick und Zukunftswünsche
Heute lebt Roxanna mit ihrer mittlerweile fünfjährigen Tochter und ihrem Freund in einem Minidorf, wie sie sagt, arbeitet Teilzeit in einer Krippe und macht ein Teilzeit Fernstudium für Soziale Arbeit. Ihr Kindheitspädagogik Studium, das sie vier Semester lang in Heidelberg machte, brach sie ab, weil es zu viel und stressig wurde und ihr der praktische Ausgleich fehlte. Die Atmosphäre unseres Gesprächs ändert sich an dieser Stelle spürbar, denn Roxanna schwärmt von ihrem jetzigen Leben in dem Dorf und der Ruhe, die sie dort gefunden hat. Nicht nur um sich herum, sondern auch in ihr selbst. Nach dem ganzen Hin und Her, das sie in ihrem Leben hatte, ist sie jetzt „sehr happy“ mit ihrer Situation.
Als ich sie frage, was ihr rückblickend gefehlt hat, betont sie, wie schlimm die Zeit in ihrer Herkunftsfamilie war. Sie versteht bis heute nichtt, warum sie als einziges Kind so lange in der Familie gelassen wurde. Sie hätte sich mehr bzw. überhaupt Unterstützung gewünscht in dieser Zeit. Außerdem bekam sie als Kind keinerlei psychologische Betreuung und das wirkte sich dann auch auf das Leben in der Pflegefamilie aus. Auch für ihre Pflegeeltern hätte sie sich eine bessere Unterstützung und Vorbereitung auf das Leben mit belasteten, traumatisierten Kindern gewünscht, da beide Elternteile nicht aus dem sozialen Bereich kamen und wenig Berührungspunkte mit dem Thema im Vorfeld hatten. Zudem ergänzt Roxanna, wie wichtig sie damals den Austausch mit anderen „Kindern aus dem System“ gefunden hätte, aber es gab niemanden in ihrem Umfeld mit ähnlichen Erfahrungen. Und auch von dem Careleavernetzwerk erfuhr sie erst vor zwei Jahren zufällig über Instagram. Jetzt versucht sie sich zu vernetzen und das an Austausch nachzuholen, was ihr gefehlt hat. Vielleicht bzw. hoffentlich gibt es dort auch einen Ausgleich zu dem immer noch und im Moment noch größeren Gefühl des Careleaver*innen-Daseins. Auf die Frage, wo und ob sie merkt, dass sie Careleaverin ist, antwortet sie nämlich damit, dass sie vor allem jetzt, wo ihre Tochter in demselben Alter ist, in dem Roxanna aus ihrer Familie genommen wurde, oft an Flashbacks leidet und generell merkt, dass es ihr schwer fällt nach Hilfe zu fragen. Sie traut sich insgesamt Vieles nicht zu, da ihr das Risiko ohne Auffangnetz (z.B. Familie) zu gefährlich ist und sie Angst hat, nochmal zu fallen.
Mit Blick auf das, was sie als schöne Erinnerung behält und für was sie dankbar ist, erzählt Roxanna davon, wie wertvoll sie es findet durch ihre eigenen Erfahrungen im System quasi einen Blick hinter die Kulissen und von der anderen Seite zu bekommen und nimmt davon viel Empathie für ihre Arbeit später mit. Außerdem betont sie, wie dankbar sie für die doch beständige Zeit in ihrem Leben ist, die sie in ihrer Pflegefamilie verbracht hat, wo sie feste Bezugspersonen hatte, die trotz Konflikten und schwierigen Zeiten immer da waren. Und mit Blick auf die Zukunft wünscht Roxanna sich, die Welt zu sehen, zu reisen und ihrer Tochter die Welt zu zeigen, mit all ihren Farben. Und dann irgendwann vielleicht in die Jugendhilfe zurückzukommen und da etwas zu bewirken. Vor allem aber wünscht sie sich glücklich zu sein.
Autorin: Valeria Anselm
Dieses Interview führte Valeria Anselm für das „Kinder- und Jugendhilfeportal“. Wir freuen uns über die Möglichkeit, Roxannas Geschichte auch hier erzählen zu dürfen.
