Als wäre ich ein Alien

Lees Geschichte

Lee ist 15 als dey1 nachts deren Sachen packen muss, um deren Zuhause zu verlassen. Allerdings war die Familie bereits seit vier Jahren beim Jugendamt bekannt und der Unterstützungsbedarf war bereits da deutlich. Durch unbekannte Umstände geht jedoch Lees Akte eine zeitlang verloren, und das Jugendamt entschuldigt sich im Nachhinein, dass niemand sich für das Kind zuständig fühlte, obwohl es anders abgesprochen war. Es dauert also vier Jahre, bis schließlich eine Lehrerin und die Schulsozialarbeit auf die Panikstörungen von Lee und deren Leiden aufmerksam werden. Es kommt der Punkt, an dem die Lehrerin entscheidet, dass es so nicht weitergehen kann, das Jugendamt informiert und Lee von Zuhause wegkommt.

Das „Honeymoon“- Jahr

Lee kommt vorübergehend eine Woche bei einer Freundin unter, bevor ein Platz bei einer Pflegefamilie gefunden wird. Der Platz ist zunächst nur als Alternative zur Inobhutnahmestelle gedacht, weil diese überfüllt sind. Doch aus einer Notlösung soll für Lee für die nächsten Jahre ein Zuhause werden. Ein Zuhause mit verschiedenen Gesichtern. An deren ersten Tag in der Pflegefamilie erinnert sich Lee wie an einen absurden Traum, hat aber sehr genaue Erinnerungen und erzählt, dass die Realität damals ganz anders war als erwartet. Es gab für Lee viele Freiheiten und dazu auch direkt einen Haustürschlüssel. Es dauert einen Monat, bis die Pflegemutter beschließt, dass sie Lee in Dauerpflege aufnimmt. Mit dem neuen Wohnort ändert sich der Alltag für Lee komplett. Neue Räume, eine neue „Familie“, ein neuer Schulweg, viele neue Reize und dazu der neue Status in der Schule als Pflegekind sind nur einige der Dinge, an die sich Lee gewöhnen muss. In Frage zu stellen bleibt, inwiefern es Lees Aufgabe ist, sich an das „Anders sein, als die anderen“ und das neue Stigmalabel „Pflegekind“ gewöhnen zu müssen. Denn vor allem in der Schule und der allgemeinen Gesellschaft ist das Thema nach wie vor ein Tabuthema. Für Lee wird das zu einer Zusatzbelastung, denn das Pflegekind-Dasein in der Schule sorgt nicht gerade dafür, dass das Mobbing, unter dem Lee seit Jahren leidet, aufhört. Ein Schulwechsel kommt nie zustande, weil Lees leibliche Eltern sich dagegen stellen. 

Anders reagiert das Umfeld der Pflegemutter auf Lee als neues Pflegekind in der Familie. Sowohl die Nachbar*innenschaft als auch Freund*innen der Pflegemutter, nehmen Lee direkt in der Familie auf und adressieren Post- und Weihnachtskarten an Lee mit. Lee darf auch mit in den Urlaub und sammelt schöne Erinnerungen in den Niederlanden. Ein Urlaub, ganz anders als in der Herkunftsfamilie, denn dort gab es immer zu wenig Geld, um entspannt und sorgenfrei in den Urlaub zu fahren.

Das erste Jahr in der Pflegefamilie beschreibt Lee generell als richtig, richtig schön. Es war eine Zeit des Kennenlernens und sehr harmonisch. Das „Honeymoon“- Jahr, wie es in der Pflegekinderhilfe oft genannt wird. Nach diesem Jahr wechselt die Stimmung im Haus aber zunehmend. 

Laut Lee vermutlich auch, weil für alle Beteiligten klar wird, dass sie auch auf Dauer miteinander auskommen und zusammenleben müssen. 

Hinter einer Glaswand

Lee tut sich schwer mit den Traditionen und Routinen der Familie und fühlt sich nicht richtig zugehörig. 
Sehr eindrücklich beschreibt Lee, wie dey sich fühlte, als würde dey hinter einer Glaswand sitzen und in anderen Familien beobachten, wie es hätte sein können, während Lee sich behandelt fühlt, wie eine tickende Zeitbombe.

Den Austausch, den die Pflegemutter durch den Kontakt zur Supervisorin und anderen Sozialarbeitenden auf ihrer Arbeit hat, gibt es für Lee nicht. Weil die Pflegemutter beim Jugendamt arbeitet und einige Familie zu ihren Klient*innen zählen, gibt es für Lee keinen Austausch mit anderen Pflegekindern. Das bedeutet, dass Lee niemanden hat, um über Erfahrungen, Ängste und Gedanken zu sprechen. Lee ergänzt an dieser Stelle auch, dass es wichtig gewesen wäre, eine weitere erwachsene Bezugsperson zu haben, z.B durch eine ehrenamtliche Pat*innenschaft, weil die Pflegemutter als Alleinerziehende nicht gereicht habe. Auch der Wunsch nach einer Vormundschaft kommt auf, weil die Eltern mit dem Sorgerecht Entscheidungen treffen, die nicht immer in Lees Interesse sind. Eine Vormundschaft oder ähnliche Begleitung durch eine außenstehende Person wäre allein schon deswegen wichtig, um auch Themen zu besprechen, die man vielleicht lieber mit jemand anderem als den (Pflege-) Eltern bespricht. Und in Lees Situation auch mit der Besonderheit, dass das Pflegekind Dasein ganz neue und andere Themen aufwirft, für die es eine gute Ansprechperson braucht. Lee braucht also andere Strategien, um sich durch die Zeit zu helfen und findet Strategien, um besser klarzukommen – im Musik hören, Spazierengehen, viel schlafen, um sich nach der Schule regulieren zu können, und im Zeichnen. Wobei an dieser Stelle spannend ist, dass Lee nach dem Auszug aus der Pflegefamilie von einer inneren Blockade erzählt und nicht mehr zeichnen kann. Zumindest nicht für sich allein. Und doch fällt die Studienwahl später auf Bildende Künste. 

Die erste eigene Wohnung wird zum safer space

Pünktlich zum 18ten Geburtstag liegt ein Brief im Briefkasten, der mit den Worten „Mitwirkungspflicht“ und „Wohnraum finden“ bei Lee zu einem weniger feierlichen Mental Breakdown führt. Um nicht zum Auszug gezwungen zu werden, muss ein Gutachten nach §35a SGB VIII erstellt werden, das eine Behinderung attestiert und damit die Unfähigkeit einer Selbstständigkeit. An dieser Stelle betont Lee, dass dey eine Behinderung nicht schlimm findet, sondern das Konzept, dass Hilfe, die andere in dem Alter als Selbstverständlichkeit bekommen, Lee (und andere Careleaver*innen) nur durch eine ärztliche Attestierung bekommen. Dank des Gutachtens bleibt Lee noch bis 21 in der Pflegefamilie, macht Abitur und sucht sich dann eine eigene Wohnung. Eine WG im klassischen Stile kommt für Lee nicht in Frage, weil die Scham zu groß ist, dort dann regelmäßig von einer Nachbetreuung besucht zu werden und nicht „ganz normal“ zu sein, wie die anderen. In den eineinhalb Jahren Nachbetreuung bekommt Lee sieben verschiedene Betreuerinnen, die ständig wechseln, auch weil die Zuständigkeiten zwischen Jugendhilfe und Eingliederungshilfe hin und her wechseln. 

Die erste eigene Wohnung wird für Lee zu einem safer space, der es auch bis heute geblieben ist. Allerdings gestaltet sich der Weg bis zu dieser Wohnung als schwierig. Denn zu den bekannten Schwierigkeiten einer Wohnungssuche kommt noch hinzu, dass Lee jemanden finden muss, der oder die für dey bürgt und manche Vermietenden absurderweise niemanden als Bürgschaft akzeptieren, die einen anderen Nachnamen tragen, als Lee. Außerdem hat Lee keine finanziellen Rücklagen – woher denn auch? Und so dauert es lange bis die gefundene Wohnung eingerichtet ist, manche Regale hängen bis heute noch nicht. Für einen Führerschein gibt es auch kein Geld und besonders herausfordernd ist es für Lee, bei anderen Menschen nach Geld fragen zu müssen. Zumindest die Studienplatzsuche erweist sich als relativ leicht und Lee bekommt direkt einen Platz an der Wunschuni. Anders als erhofft, bekommt Lee auch während des Studiums zu spüren, dass dey anders ist. Das Careleaver*innen-Dasein bleibt dadurch spürbar, dass andere an der Uni in den Ferien zu ihren Familien fahren, Urlaub gemeinsam machen und ihre Familien auch in ihre künstlerischen Werke einfließen lassen. Das macht Lee zum einen wütend auf die eigenen Umstände, vor allem aber auch auf die Tatsache, dass Eltern und funktionierende Familien in unserer Gesellschaft tief verankert sind und das Fehlen dieser nicht normalisiert wird.

Als Wunsch für die zukünftige Jugendhilfe formuliert Lee drei Dinge:

  1. Dass Fachkräfte das Konzept der professionellen Distanz hinterfragen, denn die merkwürdige Sprache von Fachkräften und Jugendamt und die „Professionelle Distanz haben mich so kaputt gemacht. Als wäre ich ein Alien.“
  2. Dass das Kindeswohl und damit auch die Psyche wichtiger sind, als das Geld (mit Blick auf die wirtschaftliche Jugendhilfe).
  3. Dass die Careleaving Community genutzt wird und auch von Fachkräften den Jugendlichen nahe gebracht und nicht verheimlicht wird, denn das Vernetzen mit anderen Careleaver*innen ist unglaublich wertvoll und wichtig.

Zum Schluss frage ich nach Lees Zielen und eigenen Wünschen für die Zukunft. Lee antwortet: 

„Ich will meinen Abschluss machen, aus der Stadt wegziehen und immer mehr werden, wer ich sein will und immer mehr werden, wen meine Eltern hassen.“

1Lee benutzt neutrale Pronomen, dey/dem oder they/them

Autorin: Valeria Anselm

Diese Geschichte entstand für das „Portal der Kinder- und Jugendhilfe“. Wir bedanken uns für die Möglichkeit, Lees Geschichte hier zu erzählen. 

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