Projekt Leben
Tessas Geschichte
Tessa wächst allein bei ihrer Mutter auf. Diese ist allerdings psychisch und körperlich sehr krank und kann sich nur bedingt um Tessa kümmern. Nach Tessas Erzählungen liegt sie viel rum und schafft es nicht richtig Grenzen zu setzen und beleidigt, schreit und weint stattdessen viel. „Ich hatte oft das Gefühl, dass ich die Mutter für sie war und sie getragen habe und nicht andersrum“, meint Tessa und betont gleichzeitig: „Meine Mutter hat mich geliebt. Das hat sie mir auch gezeigt, aber sie war halt krank.” Einen Vater gibt es für Tessa eigentlich nie richtig, denn er verleugnet sein Kind von Beginn an und ist mit einer anderen Frau liiert. Tessa wächst also alleine mit ihrer Mutter und vielen Ängsten auf. Sie erzählt, wie sie immer Angst hatte, dass irgendwas Schlimmes passiert: dass eine Kerze umfällt und es zu brennen beginnt, dass jemand einbricht oder oder. Dass diese Ängste nicht allgegenwärtig und normal sind, merkt sie, wenn sie bei Freund*innen übernachtet, weil es diese Ängste dort nicht gab. Aus einer großen Einsamkeit heraus beginnt Tessa in der Schule Mobbing zu provozieren, damit sie sich gesehen fühlt. „Lieber schlechte Aufmerksamkeit, als gar keine Aufmerksamkeit“, dachte sie damals. Das führt schließlich dazu, dass die Schulsozialarbeit auf sie aufmerksam wird und beschließt, dass es so nicht weitergehen kann. Mit 13 Jahren kommt Tessa dann für ein halbes Jahr in eine Kinderwohngruppe. Eindrücklich beschreibt Tessa ihre Erinnerung an den Tag der Unterbringung:
„Ich stand auf dem Schulhof vor der Kirchuhr und dachte, gleich ist Schulschluss, dann brauche ich ne Stunde nach Hause und dann merkt Mama, dass ich nicht da bin. – Oh Gott, Oh Gott, wie wird sie reagieren?“.
Ein Leben zwischen Einrichtungen
Nach einem halben Jahr kommt Tessa auf eigenen Wunsch zurück nach Hause. Zumindest bis sie mit 15 Jahren in einer Klinik ist und merkt, dass es zuhause nicht funktioniert und im Anschluss an die Klinik dann in eine Verselbstständigungswohngruppe zieht. Dort gefällt es ihr am Anfang sehr gut, allerdings geht es ihrer Mutter zu dieser Zeit gesundheitlich immer schlechter. Durch den wenigen Kontakt zu der Zeit merkt Tessa dies erst, als ihre Mutter bei einem Hilfeplangespräch plötzlich mit einem Sauerstoffkanister auftaucht. Für Tessa ein Schock und eine Überraschung, denn der Sauerstoff passt nicht zu der bisher bekannten Erkrankung der Mutter. Um Klarheit zu bekommen, telefoniert Tessa dann alle Krankenhäuser ab, bis sie einen Arzt erreicht, der ihr erklärt, dass ihre Mutter todkrank sei. Die Mutter verstirbt anschließend sehr schnell und es gibt keinen richtigen Abschied, kein letztes Gespräch. Die Situation scheint allerdings nicht nur für Tessa extrem belastend, sondern auch für die Fachkräfte in der WG, denn diese wissen nicht, wie sie mit der trauernden Tessa umgehen sollen. Sie sind überfordert und können mit dem Betreuungsschlüssel der Einrichtung keine genügende Betreuung für Tessa garantieren. Es beginnt eine Zeit mit viel Hin und Her. Niemand kann und möchte so richtig Verantwortung für das trauernde Mädchen übernehmen. Zuerst wird sie in einer Inobhutnahme untergebracht, welche Tessa als super marode und „richtiges Heim“ beschreibt. Die Plätze waren überbelegt und alle sind dort „auf der Nase herumgetanzt“. Die Fachkräfte sollten gemeint haben, dass sie nichts machen könnten, da sie keinen Erziehungsauftrag hätten und die Kinder dort sowieso nicht lange wären.
Danach kommt Tessa nach eigener Aussage „durch einen Fehler“ in eine Reha-Wohngruppe. Dort basiert das Konzept darauf, dass die Kinder und Jugendlichen die Therapien nutzen, mit dem Ziel, dann wieder nach Hause zu ihren Familien zu können. Eine Perspektive, die es für Tessa nicht gibt. Da Tessa den Fachkräften in der Gruppe zu unselbständig erscheint, wird sie noch in der dreiwöchigen Testphase rausgeworfen. Es folgt die nächste Inobhutnahme. Dieses Mal eine andere, da durch das kurzzeitige Auftauchen des Vaters ein Standortwechsel der Zuständigkeiten erfolgt. Zwei Monate voller Chaos, denn die Kinder in der Einrichtung sind teilweise sehr jung, laut und aggressiv, die Älteren gehen klauen… Zwischendrin gibt es immer wieder Klinikaufenthalte, aber auch diese werden teilweise von der Klinik abgebrochen. Vielleicht nicht unbedingt zu Tessas Nachteil, denn sie berichtet zwar von einzelnen schönen Bekanntschaften aus dieser Zeit, aber auch davon, dass sie das Gefühl hatte nach der Klinik noch einmal eine Klinik zu brauchen, weil sie von dem, was sie dort erlebt hatte, vor allem aber von den plötzlichen Abbrüchen der Aufenthalte, traumatisiert sei.
Es folgt eine therapeutische Wohngruppe in Hannover. Tessa erzählt, dass ein deutlicher Unterschied zwischen dieser und den vorherigen Gruppen zu sehen war und dass merkbar war, dass dort mehr Geld in die Hand genommen wurde – „Es waren nur Ikea Möbel und ich dachte mir so WOW!“.
Die Suche nach Stabilität
Das äußere Chaos, das sich in Tessas Leben im ersten Jahr nach dem Tod der Mutter abspielt, spiegelt sich auch in ihrem Inneren wider. Sie leidet sehr und muss sehr viel schlafen, da sie sonst dissoziiert. Die Betreuenden bekommen das Gefühl, dass Tessa ihre Aufgaben verweigert, dabei scheint das Schlafen ihr kurzzeitige Erleichterung zu verschaffen, sie erzählt „ich bin da aufgewacht und hatte keine Gefühle mehr, das war sehr erholsam“. Insgesamt scheinen die Fachkräfte überfordert. „Die verzweifelten Blicke, die Klinik sperrt mich aus, niemand kann mit mir umgehen und alle haben Angst“, erzählt Tessa und reflektiert „im Nachhinein hat das sehr viel in mir kaputt gemacht“. Über sich selbst sagt sie „man würde mich nicht wiedererkennen, würde man mich mit damals vergleichen, ich habe alles verweigert, ich wollte nicht. Ich war schwerst depressiv.” Und auch zehn Jahre später habe sie noch extreme Ängste, dass irgendwas passiere, dass sie sich oder Menschen wehtue. In der Revue berichtet sie, dass sie sich oft fragte, wer sie vor sich selbst schützen könne. Ihre Antwort darauf war, dass das vor allem Menschen können, die Gewalt anwenden. Deswegen habe sie auch Missbrauch toleriert und gedacht, dass diese Menschen ihr geben, was sie braucht. Heute weiß Tessa, dass sie eine histrionische Persönlichkeitsstörung hat und fühlt, wie ihre inneren Hälften einen starken Kampf führen und auch, dass die gesunde Hälfte sehr stark ist und sich wehrt. Trotzdem fühlt sie sich wie ein Einhorn, weil sie bisher keine Menschen gefunden hat, die ihr Leiden teilen und das Gefühl kennen zu sterben, wenn sie keine Aufmerksamkeit bekommen. Sie ergänzt, dass diese Krankheit „sehr ekelige Sachen“ mit ihr macht und „dass es nicht so leicht ist, sich selbst zu lieben, wenn man Teile hat, die nicht zum Lieben sind“. Auch hat sie Angst, dass andere wegrennen vor ihr, wenn sie davon erzählt, trotzdem möchte sie offen darüber sprechen. Und sie betont mit einer Stärke, dass sie mittlerweile weiß, dass sie kein Monster ist.
„Zwischen all dem Schlimmen, Chaotischen, gibt es da auch was Schönes, woran du dich erinnern kannst?“ frage ich Tessa, woraufhin sie einiges aufzählt. Eine Erinnerung sind die Freizeiten mit den WGs und dass es Geld gab, um sich diese zu leisten. Etwas Neues in Tessas Leben. Eine andere Erinnerung ist der Moment mit einer Betreuerin, zu der sie eigentlich ein schwieriges Verhältnis hatte, die plötzlich meinte „Tessa, du bist so ein toller Mensch“. Ruhe in das Chaos bringt schließlich die Verselbständigungswohngruppe in Hannover, in der Tessa bis zum letzten Sommer auch bleibt. Dort findet sie Ruhe, Freundinnen und Menschen, die für sie zur Familie werden. Menschen, zu denen sie sagen kann „ich habe dich lieb“.
Selbstvertretung und Zukunftsvisionen
Ein großes Thema, das sich durch Tessas Jugendjahre zieht, ist das Thema mit der Schule, denn auch dort wartet Chaos auf sie. Zu Beginn geht sie noch auf ein Dorfgymnasium, wo sie aber gemobbt wird, auch wegen ihrer psychischen Erkrankungen. Die Schule sensibilisiert allerdings nicht für dieses wichtige Thema und die anderen Kinder bekommen auch keine Strafen, vor allem weil ihre Eltern sich für sie einsetzen. Für Tessa gibt es niemanden, der für sie einsteht. Trotz allem ist sie traurig, als sie von der Schule gehen muss. In Hannover gibt es dann kein Gymnasium, das sie aufnehmen will. Alle verweisen auf die Realschulen, aber auch diese weisen Tessa ab. Sie wird ausgeschult, ohne irgendeine Art von Abschluss. Später, als sie wieder zurück an die Schule möchte, weil sie das Ziel vom Abitur verfolgt, telefoniert sie selbst alle Schulen in der Umgebung ab. Eine Realschule nimmt sie auf. Auf diese Zeit blickt Tessa gerne zurück und erzählt, wie sie sich selbst disziplinieren musste, um zur Klassenfahrt nach London mitkommen zu dürfen, denn die Bedingung war, dass sie pünktlich aufstehen kann. Etwas, was Tessa bis heute phasenweise schwerfällt. Sie schafft es, darf mit nach London und macht ihren Realschulabschluss. Das Abitur, was ihr wichtig ist, weil sie nicht den Weg ihrer Eltern einschlagen will, schafft sie nicht, weil Corona dazwischen kommt und das Maß an Selbstdisziplin, dass zu der Zeit von allen abverlangt wird, für Tessa zum „Genickbruch“ wird. Der Traum vom Abi, vom Abiball und vom Studieren platzt (vorerst). Mit Blick auf ihre Zukunft und beruflichen Pläne erzählt Tessa, dass sie schon irgendwann studieren möchte, ihr Ziel sei vor allem die Politik und etwas im sozialen Bereich zu bewegen. Momentan arbeitet sie ehrenamtlich für Menschen mit Behinderung, organisiert Festivals, möchte für Menschen da sein, etwas zurückgeben und betont gleichzeitig, wie wichtig Honorare für Ehrenamtliche sind, vor allem wenn sie, wie Tessa, davon leben möchten, ohne sich Sorgen um Geld zu machen.
Ein weiterer, großer Bereich von Tessas Leben und Arbeit sind die Selbstvertretungsstrukturen, der Careleaver e.V., in dem sie mittlerweile in den Vorstand gewählt wurde. Ein Ort in dem sie sich gesehen und gewollt fühlt, ein Gefühl, dass ihr auch beim Heilen hilft. Der Careleaver e.V. eröffnet Tessa neue Möglichkeiten und weckt ihre Liebe zu Podien, Veranstaltungen, gibt ihr die Möglichkeit „trotz des Schmerzes daraus was Gutes zu machen“ und führt dazu, dass sie sagt:
„mittlerweile würde ich nicht mehr sagen, dass ich für ein Elternhaus alles aufgeben würde, was ich habe. Weil ich habe tolle Beziehungen und Chancen dadurch bekommen.“
Und auch mit Blick auf die Fachwelt gibt es schöne Gefühle.
„Der Kinderschutzbund hat damals wichtige Entscheidungen angestoßen, mich mit auf Freizeiten genommen und ich wusste, das sind Menschen, die können Verantwortung für mich übernehmen“,
berichtet Tessa. Und auch das Wissen, dass sie jederzeit auf einen Kaffee in ihrer letzten WG vorbeikommen könnte, weil die Fachkräfte dort wichtig für Tessa waren und sind, hilft.
Heute ist sie 24, lebt immer noch in der Jugendhilfe, aber in einem eigenen Appartement. Der Wunsch, auszuziehen, kam von ihr selbst. Sie erzählt:
„ich liebe die Menschen dort, aber wusste, ich kann nicht für immer dort bleiben und merkte, ich wachse da raus, ich muss weiterziehen.“
Ein Gefühl, das hoffentlich auch in der jetzigen Maßnahme von alleine kommen darf. Von Seiten des Jugendamts gibt es zumindest keinen Druck und die zuständige Mitarbeiterin betont immer wieder, dass Tessa sich keinen Stress machen müsse, Jugendhilfe ginge schließlich bis 27. Über den Übergang in die jetzige Wohnung erzählt sie, dass es zwar schnell gehen musste, als der Platz frei wurde, dass sie aber einen sehr schönen intensiven letzten Monat in der WG hatte und ihr Wunsch nach ihrem Auszug noch mit auf die Freizeit zu dürfen, umgesetzt wurde. Ein heilsamer Abschied, ganz anders als der von ihrer Mutter und vor allem deswegen so wichtig.
Zum Schluss appelliert Tessa an die Jugendhilfe und die Kinder und Jugendlichen:
„Nehmt nicht einfach hin, wenn Ungerechtigkeiten passieren, ihr habt eine Stimme, nutzt sie. Ihr habt ein Recht ein gutes Leben zu führen.“
Und das sollte immer als Ziel im Blick bleiben: Kinder und Jugendliche sollen zu Menschen werden, die für sich selbst einstehen können. Dafür muss sich die Jugendhilfe einsetzen. Außerdem betont Tessa: „Wir haben es rausgeschafft, aber es schaffen nicht alle. Und die Frage ist, wie schaffen wir es, die Menschen zu greifen, zu erreichen, damit sie auf dem Weg nicht verloren gehen?“ Eine Frage die bleibt. Und die auch Tessa noch lange begleiten wird. Tessas größter Wunsch ist es, ein eigenes Buch zu schreiben. Dieser Wunsch steht fest.
Autorin: Valeria Anselm
