Perspektive einer Careleaverin

Perspektive einer Careleaverin

In der BVkE Info zum Thema Kinderrechte

Neulich wurden wir vom BVkE  (Bundesverband  Caritas der Kinder- und Jugendhilfe) angefragt, ob eine Person aus unserem Netzwerk einen Beitrag für eine Fachpublikation zum Thema Inklusion schreiben könnte. Das wollten wir – und dieser Beitrag erscheint in der Fachpublikation im Januar 2026.  Eine Person aus unserem Netzwerk schrieb als Antwort auf die Anfrage ein persönliches Statement  – das musste einfach grad mal raus, schrieb Stefanie dazu. Die Verbandsmenschen fanden ihre persönliche Antwort so eindrücklich, dass sie sie im Wortlaut direkt in ihrer BVkE-Info zum Thema Kinderrecht abdruckten. 

PS: Wir finden, dass der Begriff Heimkind nicht mehr zeitgemäß ist und einen stigmatisierenden Beigeschmack hat. Deshalb verwenden wir ihn eigentlich nicht. Stefanie verwendet ihn hier aber ganz bewusst – weil ihr Text genau mit dem damit verbundenen Stigma spielt. 

Ich bin ein ehemaliges Heimkind am Rande der Gesellschaft.

1992 kam ich im Alter von genau einem Jahr ins Sonderkinderheim und verbrachte dort die weiteren 17 Jahre meines Lebens. Meine ersten fünf Lebensjahre bezogen sich vollständig auf den Alltag in der geschlossenen Unterbringung.
Ich durfte nicht in die Kita, weil das Jugendamt ja bereits eine 24/7-Unterbringung finanzierte.
Ich besuchte keine Tierparks, ging nicht auf öffentliche Spielplätze, hatte keine Freunde und war nie in Museen oder Kinos.
Das Heim unternahm hin und wieder einen Waldspaziergang, kurz hinter unserer Einrichtung – zu wenig Personal, zu viele schwer eingeschränkte Kinder für mehr Ausflüge.

Im Heim zu leben bedeutete Isolation und Übergriffe,
Gefühle herunterzuschlucken und heimlich ins Kissen zu weinen.
Und allem voran: die Sehnsucht nach Liebe.
Im Heim zu leben bedeutete, nichts davon je zu bekommen und immer noch etwas zu verlieren.

Das letzte Jahr vor der Schule war Kitapflicht.
Ich kam in die Wirklichkeit – und eckte an.
Im Heim lösten wir Konflikte mit den Fäusten.
Mir fehlten Worte für die normale Welt.
Ich kannte nur Gewalt.
Die Kitazeit war kurz und schmerzhaft.
Ich war falsch in meinem ganzen Sein, und niemand wollte mich dabeihaben.
In abgetragenen Klamotten und mit mieser Frisur fiel ich im Klassenverband auf wie ein bunter Hund.

Ich wurde 1998 eingeschult und erlebte die Schule als einen Ort der Sicherheit und gleichzeitig sozialer Ungerechtigkeit.
Aufgrund der Läusebekämpfung innerhalb des Heims wurden uns alle paar Jahre die Haare kurz geschoren, und mit den alten Klamotten am Leib und der unappetitlichen Brotdose gab ich ein gutes Bild des Jammers ab.
An Wandertagen hatte ich nie Eisgeld dabei, und an Aktivitäten auf Klassenfahrten, die extra Geld kosteten, konnte ich nicht teilnehmen.
Ich wurde nicht zu Kindergeburtstagen eingeladen, weil ich sowieso nie ein Geschenk mitbrachte. Ich hatte kein Handy und keine hippen Klamotten.
Dafür gab es keinen Budgettopf.
Für meine Bedarfe war entweder zu wenig Personal oder zu wenig Geld vorhanden – oder beides.

Doch trotz der Widrigkeiten schenkte mir die Schule etwas, das nichts kostete: Wissen.

Ich durfte etwas lernen, und zum ersten Mal bekam ich das Gleiche wie alle anderen auch.
Ich war glücklich in der Schule und unglücklich im Heim.

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kostet Geld – und aufmerksame Menschen, die bemerken, was Kinder und Jugendliche für ein erfülltes Leben benötigen.
Für die Fachkräfte war es ein Job, und für mich war es eine Existenz am Minimum. Dauermangel.
„Für die eigenen Kinder würde das alles so überhaupt nicht reichen, und für uns Heimkinder war es mehr als genug. Heimkinder brauchen nichts Besonderes, denn sie sind auch nichts Besonderes.“

In dieser Weltanschauung wurde unser Wert bestimmt und das Budget klein gehalten.
Wir sollten dankbar für Sachspenden und Aufmerksamkeit sein, und nichts wurde uns einfach so geschenkt.
Alles hatte seinen Preis und wurde an Bedingungen oder gutes Benehmen geknüpft.
„Als Heimkind steht dir nichts zu!“
„Sei zufrieden mit dem, was du hast!“

Aber Heimkinder wollen nichts –
nichts, außer einer intakten Familie.
Eine Mama oder einen Papa, der sie wahrhaftig liebt.

Wir reden irrsinnig viel über Gelder und inklusive Jugendhilfe.
Das sind nur lasche Entschädigungen für das Leid der Bindungslosigkeit und die Unfähigkeit der eigenen Familie.
Trostpflaster, keine Großzügigkeit des Staates.

Es ist schon längst überfällig, Kindern und Jugendlichen in Wohngruppen wenigstens den Lebensstandard von Gleichaltrigen zu ermöglichen und ehrliche Chancen zu bieten, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und ihr Lebensumfeld selbst zu gestalten.

Mein ganzes Leben hing von Zahlungen ab – von Menschen in Büros, die über die Notwendigkeit einer Reittherapie nach Aktenlage entschieden.
Eine der Möglichkeiten für mich, dem Alltag in einer Wohngruppe zu entfliehen, normale Kinder kennenzulernen oder Lebensfreude mit Tieren zu erleben, war dem Jugendamt zu teuer.

Es sollte keinen Haushaltsplan für Kinderleben geben.
Die einzige Frage, die sich jede Fachkraft immer wieder stellen muss, lautet:
„Könnte ich unter diesen Umständen, wie sie in dieser Einrichtung vorherrschen, gesund heranwachsen und existieren?“

Heimkinder sind keine Kinder zweiter Klasse.
Wir haben alle den gleichen Maßstab verdient.

Stefanie R. lebt mit ihrer Tochter in Berlin. Sie ist Fachkraft in der Sozialen Arbeit und engagiert sich im Careleaver e. V. 

Hier geht`s zur gesamten  Online-Ausgabe der BVkE-Info zum Thema Kinderrechte:  

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