Projekt Leben

Valerias Geschichte

Im vierten und letzten Interview führe ich ein Interview mit mir selbst. Ich beleuchte meine Jugendhilfezeit in einer Wohngruppe nur kurz, denn es geht vor allem um den Übergang und die Zeit nach der offiziellen Hilfebeendigung.

Valeria ist elf, als sie beim Jugendamt anruft und sagt, dass sie es Zuhause nicht mehr aushält. Ein paar Monate vorher erkrankt ihre Mutter schwer an einer Psychose und kann sich in der Zeit nicht mehr richtig um ihre kleinen Kinder kümmern. Valeria kommt in eine Inobhutnahme, ihre Geschwister zu ihrem Vater. Auf eigenen Wunsch bleibt Valeria in der Jugendhilfe und zieht nicht zu ihren Eltern zurück. Sie kommt in eine Wohngruppe in Stuttgart – der Ort, der für sie in den nächsten acht Jahren zu ihrem Zuhause werden soll. Ein Zuhause, das alles andere als sicher und stabil ist, aber ein Zuhause, in dem es zu jeder Zeit mindestens eine Person gibt, von der sich Valeria geliebt fühlt, auch wenn das Wort Liebe nur selten ausgesprochen wird. Später wird sie sagen: 

„Ich habe es nie bereut, in die WG gezogen zu sein, es war das Beste, was ich in der Situation machen konnte, der beste Ort für mich zum Aufwachsen, den es gab. Und trotzdem gehe ich traumatisierter raus, als ich gekommen bin“. 

Von der Wohngruppe zum Zuhause auf Zeit

Die Zeit in der Wohngruppe ist geprägt von vielen Wechseln, sowohl personell als auch von den Kindern und Jugendlichen her. Insgesamt lernt Valeria über 100 Leute in acht Jahren kennen. 100 Leute, die in Valerias Zuhause ein und ausgehen, wie sie wollen. Es kommen und gehen viele Menschen, zu vielen gibt es keinen Kontakt mehr, manche Betreuerinnen gehen mit den Worten „wenn ich hier gehe, werde ich mich nicht umdrehen und zurückblicken“ – ein Schlag ins Herz, denn „was bleibt, wenn alle gehen?“, eine Frage, die Valeria noch lange beschäftigen wird. Doch auch das Thema Auszug und „Wann gehe ich? Und vor allem wohin?“, sind Fragen, die jahrelang in Valerias Kopf leben und allgegenwärtiges Thema der Hilfeplangespräche sind. Lange Zeit bleibt der Wunsch zurück zur Familie und zu den Geschwistern zu ziehen. Wieder normal und eine Familie zu sein, sich nicht so zerrissen zu fühlen. Aber die Angst vor den Eltern und dem, wie es wird, dort wieder zu wohnen und die harte Realität, dass ihre Eltern aufgrund ihrer Erkrankungen einfach nicht in der Lage sind, sich um ihre Tochter zu kümmern, bleiben der Grund, weshalb es nie zu einer Rückführung kommt. Mit den Jahren ändert sich das Ziel der Rückführung dann zum Ziel der Verselbständigung. 

Kampf um Selbstständigkeit und Gesundheit

Gemeinsam mit ihren Betreuerinnen schaut sich Valeria mehrere Verselbständigungsgruppen und auch betreute Einzelappartements an. Mit achtzehn hält sie dann den Wohnungsschlüssel eines kleinen Appartements in der Hand. Das kleine Zimmer mit Küchenzeile ist im gleichen Haus wie die Wohngruppe, nur ein Stockwerk höher und die engagierte Bereichsleitung sucht die bestpassende ambulante Fachkraft als Nachbetreuung heraus. Es scheint alles geklärt zu sein. Die Angst vor dem ganz allein sein, wird entkräftet durch die WG, die in unmittelbarer Nähe bleibt. Die Angst vor einer blöden, unbekannten, neuen Betreuerin scheint gebannt durch das erste Kennenlernen. Und doch stimmt das Bauchgefühl nicht. Bestimmt war es viel Angst, die zu der finalen Entscheidung gegen das Appartement führte, aber auch die Frage „Warum muss ich mit 18, kurz vor dem Abi ausziehen und alles alleine können, während andere in dem Alter nicht mal selbst Wäsche waschen können/müssen?“. Valeria gibt den Schlüssel für die Wohnung wieder ab. Eine Entscheidung, die langwierig ist, denn zwei Tage später hält sie einen positiven Coronatest in der Hand. Ein Virus, das nicht nur die Welt, sondern von da an Valerias ganzes Leben verändern soll. Sie wird krank, liegt mit Fieber im Bett, statt mit ihrer Klasse Berlin auf Klassenfahrt zu erkunden. Als die Müdigkeit auch Wochen später nicht besser wird, wird langsam klar, dass das Virus nicht spurlos an ihrem Körper vorbeigegangen ist. Stattdessen wird das Leben und der Alltag immer schwerer. Das Ziel vom Abi bleibt aber und Valeria kämpft sich mit ihrer ganzen Kraft durchs Abitur und die Prüfungen und das, obwohl sie drei Wochen vor den Prüfungen ein zweites Mal an Corona erkrankt. Zudem findet zu der Zeit weitere Diagnostik statt und statt die abgeschlossenen, schriftlichen Prüfungen mit allen anderen zu feiern, sitzt Valeria in Wartezimmern und Krankenhäusern. Auf den Abiball folgt eine OP. Statt Sommer und Urlaub, ausruhen und rumliegen. Statt Perspektiven und Zukunftswünschen, die Angst nie mehr gesund zu werden. Die Wohngruppe ist in dieser Zeit der Mittelpunkt von Valerias Leben. Und die Tatsache, dass rund um die Uhr jemand da ist, jemand da ist, der kocht, putzt und auch mal die Wäsche zusammen legt, sind die Rettung und ermöglichen Valeria ihre Kräfte für ein FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr) zu nutzen. Eine FSJ Stelle, die von dem Träger der Wohngruppe extra neu erschaffen wird, eine Teilzeitstelle, eine Stelle in der Valeria an den Selbstvertretungsstrukturen des Trägers mitwirken und ihre Meinung als Wohngruppenkind einbringen kann. 

Durch das FSJ gibt es ein Jahr Zeit, um zwischendrin mal durchzuatmen, aber auch neue Erfahrungen zu sammeln und etwas am Jugendhilfesystem zu verändern. Eine Win-Win Situation für alle Beteiligten, eine Situation, die durch ganz viel „thinking out of the box“ ermöglicht wird. „Out of the box“ ist auch die Entscheidung mit 19 zu „Pflegeeltern“ zu ziehen. Es sind die Eltern einer guten Freundin, die den Platz in ihrem Haus für Valeria bereits während ihres Abis zum Lernen anbieten, da eine chaotische Wohngruppe nicht gerade der perfekte Ort dafür ist. Es sind dieselben Eltern, die den Platz ein Jahr später auch als richtiges Zuhause auf Zeit bereitstellen und so zieht Valeria, am Tag ihres achtjährigen Wohngruppen-Jubiläums (das ist ihr wichtig zu betonen), in das alte Kinderzimmer ihrer besten Freundin. Ein äußerst schöner Ort, abgelegen von der Stadt, ein Ort der Idylle, mit Raum zum Durchatmen, ein Ort der erfüllt ist von Liebe, in jeder Faser des Hauses. Valeria erinnert sich an frühere Gespräche und Diskussionen um einen Platz in einer Pflegefamilie, aber mit elf war sie damals laut Jugendamt „zu alt“ dafür, aber sie wiederholt immer wieder:

„Ich war von Anfang an nicht gemacht für das Wohngruppenleben. Ich habe immer etwas engeres, familiäres gebraucht. Vor allem ganz viel Nähe und Liebe“. 

Ein Bedürfnis, das von den vielen Betreuerinnen nur in Teilen erfüllt werden konnte. Umso besonderer der Ort und die Menschen, zu denen sie mit neunzehn ziehen darf. Zu der Zeit ist das auch die einzige, realistische Option, um aus der Wohngruppe auszuziehen, denn dort fällt Valeria immer mehr die Decke auf den Kopf, „es ist zu eng, ich merke, ich wachse da raus und es passt einfach nicht mehr“ sagt sie. Allein wohnen ist aber aufgrund der gesundheitlichen Situation nicht denkbar. 

Abschied und Neuanfang

Und so sitzt sie im Juli 2023 auf gepackten Kisten, feiert ihren Abschied und verlässt die WG, ihr Zuhause, für immer. Etwas, woran sie selbst nicht mehr geglaubt hat, weil die Angst vor dem Verlust, vor dem Verlassen und Verlassen werden in ihrem Herz brennt und manchmal droht, sie von Innen aufzufressen. Aber sie ist mutig und sie ist nicht allein. Das weiß sie, als um die 50 Leute zu ihrem Abschied kommen – Ehemalige, Betreuer*innen, Kinder. Es wird ein Abschied, der schöner nicht sein könnte. Ein Abschied mit Tränen, mit Lachen, mit Fotos und Erinnerungen, die für immer bleiben. – 

„Da war so viel Liebe in diesem Raum, dass ich kurz vergessen habe, dass wir immer noch in der Jugendhilfe sind“.

Dass sie nicht allein ist, weiß Valeria auch, als sie an dem Abend weinend in den Armen ihrer Freundinnen, in deren WG liegt. Das beweisen ihr diese auch in den kommenden Wochen, in denen die Trauer von all den Jahren Valeria einholt und sie zwei Wochen lang das Bett nicht verlässt, nur weint. Die Angst „zu viel“ für die anderen zu sein, ist riesig. Das hat sie nämlich nicht anders gelernt. Die überforderten Gesichter der Fachkräfte, das „ich habe keine Zeit“, „wir können dir nicht das geben, was du brauchst“, all das, was die Jugendhilfe ihr jahrelang erklärt hat, was sich in ihr Herz eingebrannt hat, wird widerlegt, durch Freund*innen, Menschen, die sich um sie kümmern, tage-, wochen-, mittlerweile jahrelang. Etwas, was jedes Kind bereits von klein auf erfahren sollte, etwas, was die Jugendhilfe mit ihren jetzigen Strukturen verweigert. 

„Ich weiß noch, ich habe zwei Wochen lang nur geweint. Ich dachte, mein Leben sei vorbei, dass es nie besser werden würde und der schlimmste Schmerz war, dass ich meine Mama unendlich vermisst habe. Die Mama, die ich mit elf zum letzten Mal gesehen und gespürt habe. Die Mama, die meine Mutter seitdem nie wieder war.“, erinnert sich Valeria. 

„Ich habe gedacht, das hört nie auf. Aber dann war da dieses Careleaver*innen-Camp, das Brückensteine Festival, zu dem ich unbedingt wollte. Also bin ich aufgestanden und da hingefahren, ans andere Ende von Deutschland. Das war das Beste! Ich habe noch nie einen Ort gesehen, der sich so sehr nach safer space angefühlt hat. So viele Menschen, die so sind, wie ich. Die wissen, was der Schmerz von „keine Eltern“ mehr in dem Sinn zu haben, bedeutet. Ich wusste, ich kann da einfach so sein, wie ich bin. Und als ich dann zurückkam, ging es mir viel besser.“ 

Dieser Sommer bleibt, als ganz besondere, schmerzhafte, aber auch wertvolle Erinnerung zurück. Im Herbst beginnt Valeria dann ihr Studium für Soziale Arbeit. Mittlerweile studiert sie im vierten Semester, hängt aufgrund ihrer Erkrankung und vielen Krankenhaus- und Reha Aufenthalten aber sehr hinterher und kämpft sich da aber genauso durch, wie durch alle anderen bisherigen Hindernisse ihres Lebens. Und anders, als mit 16, als ihre Depression ihren Lebenswillen und die Zukunftsperspektiven auffraß, fehlt es ihr heute an einem nicht: an dem Willen und dem Wunsch nach (mehr) Leben. Ein Leben, für das sie eine Chance bekommt. Mit Steinen im Weg, mehr Großen als Kleinen, aber ein Leben, dass sie nur leben kann, weil es immer, immer wieder Menschen gab, die nicht vor den Schranken des Systems Halt gemacht haben. Weil es immer Fachkräfte, viele Fachkräfte gab, die nach Lösungen gesucht, gebastelt haben und die vor allem immer eins getan haben: an Valeria geglaubt!

Am Schluss frage ich sie nach ihren Wünschen für die und ihre Zukunft:

„Ich möchte gesund werden. Ich muss gesund werden. Etwas, was sich als schwierig gestaltet, denn Post Covid und das daraus resultierende Me/cfs ist bislang noch unerforscht und die Behandlung gestaltet sich schwierig. Deswegen braucht es, genauso wie für die Jugendhilfe, noch mehr Aufmerksamkeit für das Thema und die Forderungen der Gesellschaft an die Politik. Das schließt euch Lesende mit ein! Informiert euch, nutzt eure Stimmen und helft euch und uns das System zu verändern! – Also ich werde gesund und dann will ich zurück in die Jugendhilfe. Vielleicht in die Jugendhilfe im Ausland und dort in die Heime, denn es gibt überall auf der Welt so viele Kinder, die nichts dringender brauchen, als Liebe und Arme, die sie halten. Und ich habe so viel Liebe in mir, die ich teilen kann und will. Ach ja und dann wäre da noch ein System, das gesprengt werden muss. Denn unser (Jugendhilfe-)System ist einfach scheiße, für alle Betroffenen. Es ist kapitalistisch und wurde nie dafür gemacht, den Bedürfnissen der Kinder und auch nicht denen der Fachkräfte gerecht zu werden. Also müssen wir es sprengen und neu aufbauen. Daran glaub‘ ich. Und daran müssen wir arbeiten. Und ich wünsche jedem Kind mindestens eine Person, die an es glaubt. Denn, wenn niemand an dich glaubt, dann schaffst du das nicht, dieses Jugendhilfesystem zu überleben.“

Autorin: Valeria Anselm

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