Jenseits von Nation und Gewalt

Familie anders denken

Bericht von Anna Kücking zum Gesprächsabend in der Spore Initiative in Berlin am 23. Oktober 2025

Am 23. Oktober sind in der Spore Initiative in Berlin rund 40 Menschen aus der Sozialarbeit, der Jugendhilfe und interessierte Kolleg:innen zusammengekommen, um über Gewalt, Zugehörigkeit und das deutsche Rechtssystem zu sprechen. 

Der Titel reagiert auf nationalistische Tendenzen der Gegenwart, die Gewalt nicht mindern, sondern vervielfachen. Sie tun das, indem sie Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit und ihrem Bleiberecht einschränken, indem sie Zugehörigkeit an Pässe, Herkunft, Geschlecht, Leistung und Anpassung binden. Anhand der Raumfrage wird entschieden, wer dazugehört und wer nicht, wer sprechen darf, wer gehört wird, und wer in Gemeinschaften welche Rolle spielen darf.

Gesetze und Politik: Gewalt in der Gegenwart

Im Moment wird in Europa über die Asylreform GEAS beraten. Diese droht schwerwiegende Menschen- und Kinderrechtsverletzungen für Geflüchtete, Jugendliche und Kinder zu legitimieren. Während zivilgesellschaftliche Organisationen vor diesen Entgleisungen warnen und fordern, konkrete kinderrechtliche Schutzgarantien festzuschreiben, setzt die Bundesregierung auf das Gegenteil: Haft und haftähnliche Unterbringung auch für Kinder sollen rechtlich möglich sein.

Gleichzeitig zeigen sich in Deutschland Kürzungspolitiken, die direkt in das Leben von Kindern und Jugendlichen eingreifen. Besonders in Berlin werden derzeit Sozialleistungen und Hilfen im Jugend- und Familienbereich abgebaut – mit der Begründung, sparen zu müssen. Diese Kürzungen sind nichts anderes als politische Gewalt.

Familie, Armut, Gewalt

Familientrennungen werden in Deutschland häufig individualisiert – als persönliches Versagen, nicht als Folge staatlich produzierter Ungleichheit, Armut, Krieg, Verfolgung oder mangelnder gesundheitspolitischer und sozialer Maßnahmen. Fehlende Mitsprache, fehlender sozialer Wohnungsbau und die chronische Unterfinanzierung des Sozialsystems führen dazu, dass Menschen in instabile, überfordernde Verhältnisse gedrängt werden – und daraus resultierende Brüche wiederum als individuelle Schwäche gelesen werden. 

Auch aufgrund dieser gesetzlichen Vorgaben und den damit einhergehenden Beschämungen und materiellen Entbehrungen bzw. Armut erleben junge Menschen, die innerhalb dieses Systems aufwachsen, keine Rechte zu haben: kein Recht auf Unversehrtheit, Privatheit, Bildung, menschenwürdige Arbeit oder Beziehungen, in denen Sorge nichts kostet. Sie erleben im Gegenteil, dass Behörden, Gesetze und Regelwerke gegen sie arbeiten.

Ein Beispiel dafür war die bis 2022 geltende Kostenheranziehung: Jugendliche, die nach ihrem 18. Geburtstag weiter in Wohneinrichtungen leben mussten, mussten bis zu 75 % ihres Einkommens an das Jugendamt abgeben – als müssten sie ihre Existenz rechtfertigen oder zurückzahlen. Erst durch das Engagement von Careleaver:innen und solidarischen Netzwerken wurde diese Praxis abgeschafft.

Recht wird in Deutschland selten aufsuchend oder präventiv gewährt. Es muss eingefordert werden. Daran scheitern viele; weil es Kraft, Ressourcen und Geld kostet. 

Corona und die Familie als politischer Raum

Spätestens seit der Corona-Pandemie müsste klar sein, dass Gesetze und Konventionen es Menschen erschweren, Familie zu sein. Familien, die nicht weiß, cis, hetero oder able-bodied sind, die anders leben als das bürgerliche Familienideal, werden systematisch benachteiligt. Auch Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben können oder wollen, sind in diesem System kaum geschützt.
Die Realität, in der Ein-Eltern-Familien, Familien mit behinderten Eltern, queere und migrantische Familien leben, wird politisch meist nicht anerkannt – obwohl sie täglich Sorge tragen, Netzwerke aufbauen und füreinander kämpfen. Aus diesen alltäglichen Kämpfen entstehen Erfahrungen von Widerstand und Solidarität. Sie erzählen davon, wie Menschen füreinander einstehen und Überleben ermöglichen – jenseits von Gewalt und nationalen Phantasmen.

Der Gesprächsabend in der Spore Initiative

Es wurden Kritikpunkte gesammelt, Erfahrungen geteilt und Schmerz zugelassen – Schmerz über fehlende Mitbestimmung, über fehlende finanzielle und soziale Absicherung, über die Erfahrung, von einem System abhängig zu sein, das strukturell hierarchisch bleibt, selbst in der Sozialen Arbeit. Das besondere an dem Abend war die große Zahl an Teilnehmenden Careleaver:innen und das offene Teilen von Geschichten. 

Für das Podium waren der Solidaritäts-Treff Sozialarbeit und die Juristin und Autorin Asha Hayati eingeladen, die in „Die Stille Gewalt“ von partnerschaftlicher, struktureller und institutioneller Gewalt berichtet. Dabei erleben Frauen, dass Institutionen gewalttätige Partner schützen. Oft ist die Erfahrung, dass sie sich nur für ein Leben im Armut oder in einer Gewaltbeziehung entscheiden können. Das führt dazu, dass viele Menschen in Gewaltbeziehungen bleiben, obwohl das auch ihre Kinder betrifft. Dabei wird Schuld produziert, wenn etwas passiert: Die Aussage, warum man sich nicht getrennt hätte, wenn heftigere Übergriffe passieren – und weitere. Ausgehend davon wurde diskutiert, inwiefern der verlängerte Arm häuslicher Gewalt – in Form institutioneller Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit – auch Kinder betrifft, die in solchen Haushalten und später in der Jugendhilfe aufwachsen.

Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Reflexion von Hierarchien zwischen Sozialarbeitenden und Careleaver:innen. Oft werden letztere noch immer als passive Empfänger:innen von Hilfe adressiert – anstatt als aktive Akteur:innen, die seit Jahrzehnten für ein gerechteres System kämpfen, sich ehrenamtlich organisieren und solidarische Netzwerke aufbauen.
Gleichzeitig wurde sichtbar, dass viele Fachkräfte unbewusst in die Rolle der Bestimmer:innen zurückfallen – etwa, wenn sie entscheiden, welche Emotionen „angemessen“ oder welche Reaktionen „hilfreich“ seien.

Die Diskussion plädierte dafür, weniger Gehorsam gegenüber bestehenden Strukturen zu zeigen, Gesetze zu hinterfragen – und zugleich für neue gesetzliche Grundlagen zu kämpfen, die ein menschenwürdiges Leben für alle ermöglichen. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Situation – insbesondere der Kürzungen im sozialen Bereich und im Bürgergeld, von denen statistisch jedes dritte Kind betroffen ist – wurde deutlich, dass es sich hierbei um massive Angriffe auf Kinderschutz und soziale Rechte handelt. Auch wurde kritisch über das deutsche Rechtssystem gesprochen, das weiterhin eine cis-heteronormative Partnerschaftslogik priorisiert und damit vielfältige Lebensrealitäten marginalisiert. Besonders in der Pflegekinderhilfe ist da ein Thema, etwa durch Annahmen, dem Kind schade, dass “kein Mann” im Haus sei. 

Viele der Anwesenden – insbesondere Menschen mit eigener Erfahrung in der Jugendhilfe – beschrieben den Schmerz über Verluste ihrer Freund:innen und anderen Menschen in der Jugendhilfe, der Tatsache, dass Menschen das System nicht überleben, sprachen über die totale Abhängigkeit vom Jugendamt, fehlende Mitbestimmung, mangelnde finanzielle und soziale Absicherung sowie die alltägliche Konfrontation mit staatlich erzeugten Schwellen. Das Gefühl, keine Rechte zu haben, zieht sich wie ein roter Faden durch viele Lebensgeschichten. Auch konkrete Beispiele aus der Praxis zeigten, dass Jugendliche und junge Erwachsene in der Jugendhilfe noch immer von in einem schwerwiegenden Maß von Obdachlosigkeit, Bildungsbarrieren und prekärer Arbeit bedroht sind und dass diese Realitäten und die damit verbundenen krassen Ängste und Unsicherheiten ihre emotionale Stabilität und ihre Lebensqualität massiv einschränken. 

Weitere Forderungen wurden zusammengetragen: 

Das müssen wir abschaffen

  • die U25-Regelung,
  • die Abhängigkeit von Hilfeplanverfahren (HPG),
  • Hilfeplangespräche mit zu vielen Beteiligten,
  • das Hilfeende mit 18 Jahren,
  • elternabhängige Sozialleistungen.

Diese Verfahren sind diskriminierend – klassistisch, ableistisch, rassistisch.
Sie zwingen Kinder und Jugendliche, immer wieder über ihre Vorbelastungen zu sprechen, machen Jugendhilfe von Aufenthaltsrecht abhängig, produzieren Unsicherheit in der Unterbringung, sprechen in einer Sprache, die viele ausschließt, und sichern das Wohnen nicht. In den Familiengerichten herrscht eine große Anonymität und fehlendes Wissen über die Lebensrealitäten junger Menschen. Der große Machtüberschuss auf Seiten der Institutionen muss abgebaut werden.

Was Sorge bedeutet

Sorge bedeutet, emotionale und psychische Gewalt ernst zu nehmen – und sie zu verhindern.
Es bedeutet, Strukturen zu schaffen, in denen Menschen über Gefühle sprechen können, ohne bewertet zu werden.
Sorge heißt, Raum für Trauer zu geben, statt sie zu disziplinieren.

Das nervt an der Sozialen Arbeit

Viele berichteten, was sie an der sozialen Arbeit müde macht:
autoritäre Reflexefehlendes Hierarchiebewusstseinmiese Personalschlüsselabwertende SpracheDeprofessionalisierungschlechte BezahlungSachzwängeGutachtenabhängigkeitkaum Geld für professionelle Arbeit

Das bedeutet kritische Soziale Arbeit

Kritische Soziale Arbeit heißt, die Ursachen nicht bei den Einzelnen, sondern im Staat zu suchen.
Sie stellt Reproduktion gegen Struktur und begreift Soziale Arbeit als politischen Raum.
Sie erkennt, dass der Staat Gewalt produziert – durch Gesetze, Institutionen, Unterlassung.

Kritische Soziale Arbeit heißt:

  • Redeanteile begrenzen, damit alle gehört werden.
  • Klare Vorgaben für Sozialarbeitende und Familiengerichte: sie müssen auf sich, ihre Haltung und ihre institutionellen Strukturen blicken. 
  • Raum geben für Gefühle, Trauer und Unsicherheit, ohne zu bewerten oder etwas anderes zu wollen.
  • Eine Sprache finden, die nicht verwaltet, sondern verbindet.

Diese Gesetze braucht es

  • Bedingungslose Jugendhilfe
  • Grundsicherung ohne Entblößungszwang – auch juristische Begleitung für Eltern
  • Verbindliche, einheitliche Tarifierung
  • Verbindliche Schutzkonzepte für Care-Leaver:innen und unabhängige, heterogene Beschwerdemöglichkeiten
  • Voice, Choice, Exit als gesetzlicher Standard

Schweigepflicht und Whisteblowing für Sozialarbeitende

Regelmäßige diskriminierungskritische Fortbildungen 

  • Rechtsstatus „Leaving Care“
  • Begleitung durch vertraute Personen in rechtlichen Verfahren, Durchsetzung der Beschwerden §37b2 gegenüber Familienberichten

Darüber wird (noch) nicht gesprochen

  • Sexueller Missbrauch von Kindern
  • Struktureller Rassismus
  • Queerness in der Jugendhilfe
  • Strukturelle und institutionelle Gewalt
  • Trauer Überforderung, mangelnde Finanzierung
  • Politische Utopien und Zukunftsvorstellungen

Was einen gewaltfreien Umgang ausmacht

  • Keine Rechtfertigung für Gewalt – auch nicht in Sprache
  • Gewalt früh erkennen, da sie meist verbal beginnt
  • Aktives Entgegentreten und Benennen
  • Wissen über strukturelle Systeme, denen Gewalt innewohnt
  • Machtsensibilität, Liebe, Awareness als Praxis
  • Gewaltfreie Kommunikation und aktives Zuhören
  • Aufklärung über Rechte, Mitbestimmung, Stimmrechte, Quoten
  • Vertrauen schenken
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