Online-Fachtag: Bildungserfolge für alle!
Tagungsbericht
Am 5. Dezember veranstaltete der Careleaver e.V. gemeinsam mit der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen, der Universität Hildesheim und der Ev. Stiftung Arnsburg den Online-Fachtag „Bildungserfolge für alle – gute Praxis in den Hilfen zur Erziehung und ihren Schnittstellen!“. 70 Fachkräfte aus den unterschiedlichsten Bereichen tauschten sich mit Wissenschaftler*innen und Careleavern darüber aus, was es braucht, um junge Menschen bei der Gestaltung einer erfolgreichen Bildungsbiografie zu unterstützen.
Wie Dorothee Kochskämper von der Universität Hildesheim gleich in ihrer Begrüßung betonte, war das Ziel dieses Fachtages vor allem der Dialog, weshalb sie die Teilnehmenden dazu aufforderte, von den digitalen Interaktionsmöglichkeiten, wie zum Beispiel dem Chat, auch reichlich Gebrauch zu machen – was die über 70 zugeschalteten Fachkräfte, Wissenschaftler*innen und Careleaver*innen in den folgenden vier Stunden auch tatkräftig taten. Denn neben einem fachlichen Input, den die Wissenschaftler*innen der Universität Hildesheim und die Referent*innen der vier angebotenen Workshops einbrachten, ging es an diesem Tag auch darum, die unterschiedlichen Erfahrungshintergründe der Teilnehmer*innen zu nutzen, um gemeinsame Ideen zu entwickeln. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung in ihren Bildungsbestrebungen besser gefördert und unterstützt werden können.
Wir wissen nicht viel, aber wir wissen, dass es eine Bildungsbenachteiligung gibt!
Für den fachlichen Einstieg sorgte Dr. Katharina Mangold von der Universität Hildesheim, die für ihren Impulsvortrag den Titel des Fachtages um ein kritisches „trotz“ ergänzte – Bildungserfolge „trotz“ Heimerziehung. Die Erziehungswissenschaftlerin forscht seit vielen Jahren im Team der Universität Hildesheim zum Bereich Übergang/Leaving Care. In Bezug auf die jeweiligen Bildungsbiografien sagt sie, ist die Datenlage aber immer noch sehr lückenhaft. „Wir wissen immer noch wenig über die Bildungssituation junger Menschen in der Jugendhilfe. Was wir wissen, ist, dass es eine Bildungsbenachteiligung gibt.“
Was sie in ihren eigenen Forschungen belegt, sei eine Tendenz zum Sicherheitsdenken: So würden junge Menschen in den Erziehungshilfen eher dazu angehalten, eine Ausbildung zu absolvieren oder zunächst einen niedrigeren Schulabschluss zu machen, statt von Anfang an einen höheren Bildungs- oder Studienabschluss anzustreben. Häufig, berichtet sie, sei ihr bei ihren Gesprächen mit Fachkräften auch die Haltung begegnet: „Wir sind ja schon froh, wenn die jungen Menschen den Hauptschaulabschluss schaffen“
Dabei ginge es nicht darum, Bildungserfolg ausschließlich am erreichten (höheren) Bildungsabschluss festzumachen, sondern darum, ob die jungen Menschen auf dem von ihnen selbst favorisierten Weg begleitet und unterstützt würden. In ihren qualitativen Interviews hat sie herausgefunden, dass junge Menschen in den Erziehungshilfen sich selbst häufig mehr zutrauen als ihre Betreuer*innen und sich wünschen, dass sie in ihren eigenen Bildungsbestrebungen mehr unterstützt werden. Was sich banal anhöre, so Dr. Katharina Mangold, sei in Wirklichkeit enorm wichtig. Nämlich: Die Bildungsziele von jungen Menschen anhören, ernstnehmen und unterstützen.
Careleaver*innen berichten über ihre Bildungsbiografie
Im Anschluss an ihren Impulsvortrag berichteten vier Careleaver*innen über ihre ganz persönlichen Bildungsbiografien. Lisa hat nach der Realschule ihr Abitur auf einem allgemeinen Gymnasium gemacht und fühlte sich durch ihre Wohngruppe dabei gut unterstützt. Die Betreuer*innen realisierten sogar einen gemeinsamen Gruppenausflug nach Heidelberg, wo sie sich um einen Studienplatz bewerben wollte. Joanna war von Anfang an auf einem Gymnasium und kam mit den Anforderungen problemlos zurecht. Schwierig wurde es für sie aber anschließend bei der Wahl ihres Studienfachs. Sie stand unter enormen Druck, den eingeschlagenen Bildungsweg auch zu schaffen. Sie berichtete, dass es für Careleaver*innen durchaus Unterstützungsangebote (wie z. B. Stipendien) gebe, und dass Careleaver*innen unbedingt dazu ermuntert werden sollten, sich darum zu bemühen. Ihr selbst habe ein Stipendium sehr geholfen. Ali kam vor sechs Jahren aus Afghanistan nach Deutschland, schaffte seinen Schulabschluss beim zweiten Anlauf und brach zwei Ausbildungen ab, bis die dritte endlich das Richtige für ihn war. Für ihn, berichtete er, wäre es wichtig gewesen, früher besser über das hiesige Schul- und Ausbildungssystem Bescheid zu wissen. Robert dagegen stellte heraus, wie sehr seine Pflegefamilie ihn allein dadurch unterstützt habe, dass er nach der Schule ein gutes Essen bekam und ein schönes Zimmer hatte, indem er in Ruhe lernen konnte.
Arbeit in Workshops
Anschließend wurden vier Workshops zu den Themen „Empowerment von jungen Menschen“, „Bildungsförderung von jungen Menschen mit Fluchterfahrung“, „Förderung im Übergang zwischen Schule und Beruf“ und „Bildung in der stationären Erziehungshilfe“ angeboten. Nach einem kurzen Input der jeweiligen Referent*innen gingen die nun deutlich kleineren Gruppen in einen Dialog zu den vorgestellten Konzepten und/ oder Fragestellungen.
Die Autorin dieses Beitrags hat den Workshop „Empowerment von jungen Menschen“ besucht. Diesen leitete die Vorsitzende des Careleaver e.V., Dr. Melanie Overbeck, mit den Worten ein: „Ich bin Bildungsaufsteigerin. Wenn ich einen Lebenslauf anfertigen muss, dauert das immer etwas länger. Da stehen dann drei Realschulen, eine Hauptschule, ein Berufskolleg und ein Abendgymnasium drin“.
Ihr ehemaliger Betreuer aus der Einrichtung hatte relativ nüchtern reagiert, als sie ihm erzählte, dass sie nun Jura studieren werde, worüber sie zuerst enttäuscht war. „Er fand das gut, aber er war jetzt auch nicht total aus dem Häuschen“. Heute halte sie seine Reaktion für die einzig Richtige, „weil da eine Normalität mitschwingt: Wenn du das willst, dann mach das“. Seine Reaktion habe keinen Zweifel daran gelassen, dass sie das schaffen könne.
Diese Reaktion ihres Betreuers nahm sie als Ausgangspunkt für die Fragestellung: Brauchen junge Menschen in der Jugendhilfe etwas Besonderes für eine erfolgreiche Bildungsbiografie? Oder brauchen sie mehr Normalität?
Aufklärung ist nötig
Nach den Workshops kamen alle Teilnehmer*innen nochmal in großer Runde zusammen. Es zeigte sich, dass in den jeweiligen Workshops viele Praxistipps ausgetauscht wurden und alle Kleingruppen von der gemischten Zusammensetzung von Fachkräften aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen profitierten. Ein Fazit war, dass es nach wie vor an wichtigen Schnittstellen an Verständnis oder Wissen fehle, wie die Situation der jungen Menschen sei. Zum Beispiel wüssten viele Lehrer*innen nicht, dass junge Erwachsene, die bereits in der Verselbständigung sind, auch viele außerschulische Termine und Verantwortlichkeiten haben, denen sie nachkommen müssen.
Eine Erkenntnis, die sich durch alle Workshops zog, war: Bildung braucht Zeit und Ressourcen. Auch Careleaver*innen müssen „die Erlaubnis haben“, zu scheitern und z.B. die Wahl einer Ausbildung oder des Studienfachs noch einmal zu korrigieren.
Abschließendes Expert*innengespräch
Zum Schluss gab es noch ein abschließendes Expert*innengespräch. Almut Röhrborn vom Diakonischen Werk Berlin Brandenburg berichtete über die Ergebnisse einer in ihren Einrichtungen durchgeführten Bildungsstudie. Diese zeigt: Fachkräfte brauchen mehr Ressourcen für Bildung, müssen dies aber auch als Aufgabe für sich definieren.
Claudia Walter vom Jobcenter Stuttgart/ Fachstelle U25 gab Einblick in die Arbeitsweise des Stuttgarter Arbeitsbündnisses. Eine Art runder Tisch, an dem Jugendamt, Jobcenter, die Agentur für Arbeit und inzwischen auch die Schulen beteiligt sind. Dieses Gremium arbeitet nicht auf der Einzelfallebene, sondern hat den Auftrag, die vorhandenen Strukturen zu überprüfen und wo nötig zu verbessern.
Und auch Lisa vom Careleaver e. V., die schon eingangs über ihre eigene Bildungsbiografie berichtet hatte, stand nochmal Rede und Antwort. Was brauchen Careleaver*innen für eine erfolgreiche Bildungsbiografie? Ihr Fazit: erstens, jemanden der*die an mich glaubt und mich motiviert, zweitens Informationen über Bildungswege und Beratung, drittens eine gute Vernetzung zu anderen Careleavern, viertens finanzielle Sicherheit im Übergang von der Jugendhilfe in die Selbstständigkeit.
Allen dreien hätten viele Teilnehmer*innen sicher gerne noch weitere Fragen gestellt. Nicht zuletzt deshalb werden der Dialog und der Austausch über Beispiele guter Praxis über diesen Fachtag hinaus weiter fortgesetzt.