Inobhutnahme!

Wie sieht die Perspektive von Careleavern auf dieses Ereignis aus?

Sehr viele Menschen, die in der stationären Jugendhilfe aufgewachsen sind, können sich ihr Leben lang bis ins kleinste Detail an den Tag erinnern, an dem sie in Obhut genommen wurden. Schon dieser Umstand zeigt, dass die Inobhutnahme für Kinder und Jugendliche ein Erlebnis darstellt, das von besonders intensiven Emotionen geprägt ist. Für das im April in zweiter Auflage erschienene Handbuch Inobhutnahme hat unsere Vorsitzende Dr. Melanie Overbeck gemeinsam mit Marion Rosin einen Beitrag aus Sicht der Betroffenen verfasst. Deshalb sprachen wir mit Melanie Overbeck darüber, wie die Einhaltung bestimmter Kriterien mit dazu beitragen kann, ob dieses emotional hoch belastende Ereignis nachhaltig als traumatisierend erinnert wird oder nicht. 

Melanie Overbeck, eine Inobhutnahme ist immer eine emotional schwer belastende Situation – lässt sich dieses Spannungsverhältnis überhaupt auflösen?

Eine Inobhutnahme ist in der Tat immer eine emotional extrem belastende Situation und zwar unabhängig davon, ob sie auf Initiative des Kindes oder auf Initiative Dritter erfolgt. Aber wie wir in unserem Beitrag darlegen, ist es gerade deshalb enorm wichtig, wie diese Situation von den durchführenden Fachkräften gestaltet wird. Werden bestimmte Bedürfnisse der beteiligten Kinder nicht ausreichend berücksichtigt, kann dies die Belastungssituation schlimmstenfalls noch verstärken. 

Was ist denn zum Beispiel so ein Auslöser, der einen großen Unterschied macht?

Es fängt damit an, dass eine Inobhutnahme Kinder gegenüber ihren bisherigen Bezugspersonen unter enormen Druck setzt. Viele Kinder, die zu Hause physisch oder psychisch misshandelt werden, haben vor allem Angst vor ihren Eltern. Diese Angst ist in einer Situation, in der sie befürchten, ihre Bezugspersonen könnten herausfinden, dass sie sie verlassen wollen, enorm groß. Andere haben dagegen riesige Schuldgefühle, weil ihre Eltern zum Beispiel aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage sind, sich um sie zu kümmern, und sie sich schuldig fühlen, wenn sie sie allein lassen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass das Kind zuallererst von den Eltern separiert wird, damit es diesem psychischen Druck so kurz wie möglich ausgesetzt ist. Das heißt, es braucht immer mindestens zwei Fachkräfte, um eine solche Trennung in einer unübersichtlichen Situation gewährleisten zu können.  

Wie ihr in eurem Beitrag darlegt, erinnern viele Careleaver ihre Inobhutnahme vor allem deshalb als beängstigend, weil sie sich dabei ohnmächtig gefühlt haben und nicht wussten, was genau passiert?

42 SGB VIII schreibt vor, dass Kinder und Jugendliche während einer Inobhutnahme stets altersgemäß informiert und aufgeklärt werden müssen. Alle unsere Gespräche, die wir in Vorbereitung auf den Beitrag geführt haben, zeigen aber, dass genau das häufig nicht passiert. Eine Inobhutnahme ist eine häufig unübersichtliche, emotional extrem aufgeladene Situation. Das führt bei allen Beteiligten häufig zu großer Verunsicherung, insbesondere aber bei den Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig können sich aber gerade die Kinder mit ihrer Verunsicherung in dieser Situation nicht an ihre bisherigen Bezugspersonen wenden, da sie von denen ja gerade getrennt werden sollen. Eine altersangemessene Information ist für die Kinder und Jugendlichen deshalb enorm wichtig, um ihnen Halt und Sicherheit zu geben. Sicher kann die Frage nach dem Warum vor Ort nicht ausführlich besprochen werden. Aber die Kinder müssen in dem Moment die Möglichkeit haben zu erfassen, was gerade mit ihnen passiert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Botschaft: Es ist nicht deine Schuld.

Euch war es wichtig, die Inobhutnahme nicht auf die konkrete Situation zu reduzieren, sondern auch die unmittelbar darauf folgenden Wochen in den Blick zu nehmen. Warum?

Die Zeit nach der Inobhutnahme ist häufig von vielen offenen Fragen  geprägt: von der Frage einer möglichen Rückführung in die Familie über das Abwarten von Gutachten und gerichtlichen Entscheidung, bis hin zur Entscheidung über eine bestmögliche dauerhafte Unterbringung. Viele dieser Unwägbarkeiten lassen sich bei aller Anstrengung nicht vermeiden. Trotzdem glauben wir, dass mehr getan werden kann, um Kindern und Jugendlichen gerade in dieser Zeit ein Minimum an Kontinuität und Sicherheit zu gewähren. Zum Beispiel finden wir, dass zu wenig versucht wird, das soziale Leben von Kindern auch nach einer Inobhutnahme aufrecht zu erhalten.

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